Offener Brief der
Tierärztekammer Hamburg an Senatorin Karin Roth, Behörde für
Arbeit, Gesundheit und Soziales
Hamburg,
16.10.2000
Sehr geehrte Frau Senatorin Roth,
die Tierärztekammer Hamburg wurde zwar in die Vorgespräche zur
Hundeverordnung involviert, nach dem tragischen Todesfall in
Wilhelmsburg sind wir jedoch zu unserem Bedauern nicht weiter
eingebunden worden.
Sachliche Argumente hätten während der emotionalen
öffentlichen Diskussion kaum Gehör gefunden. Daher hat sich die
Tierärztekammer Hamburg mit entsprechenden Äußerungen
zurückgehalten. Da die Hundeverordnung seit drei Monaten durch
Ihre Behörden angewendet und umgesetzt wird, möchten wir jetzt
dazu wie folgt Stellung nehmen.
Die Mitglieder der Tierärztekammer sind kompetente
Sachverständige in allen Fragen, die Hunde und deren Haltung
betreffen, daher muß auf der Basis dieses Fachwissens die
momentane Verordnung und ihre Durchführung von uns kommentiert
werden:
Ad
1. Gefahrenabwehr, Rassekataloge
Eine Gefahrenabwehr für die Bevölkerung ist in unser aller
Interesse. Das Hamburgische Tierärztegesetz sieht hier ein
Aufgabengebiet für Tierärzte vor. Es trifft zu, daß von der
Hundehaltung generell ein Gefahrenpotential ausgehen kann.
Rassekataloge (und die daraus abgeleiteten Konsequenzen) als
primäre Basis der Gefahrenabwehr aber müssen wir unter
sachlich-fachlichen und wissenschaftlichen Aspekten ablehnen.
Rassekataloge entbehren sowohl biologisch als auch statistisch
jeder wissenschaftlichen Grundlage. Es gibt keine Untersuchungen,
die hier auch nur im Ansatz rechtfertigen, einige Hunderassen als
"gefährlich" und andere als "ungefährlich"
einzuordnen.
In der Anlage befinden sich
Ad
2. Aggressionsverhalten, Beißhemmung
Aggressionsverhalten gehört zum normalen Verhaltensrepertoire
eines jeden Hundes, unabhängig von Gewicht oder Größe.
Ein Hund beginnt im Alter von 4 Wochen, Elemente von aggressivem
Verhalten zu zeigen. Hunde, bei denen keinerlei Elemente des
Aggressionsverhaltens vorkommen, gibt es nicht.
Wenn man Rassekataloge damit rechtfertigen wollte, dass Größe,
Gewicht oder Beißkraft entscheidend für die
"Gefährlichkeit" einer Rasse sind, dann fehlen im
Rassekatalog der Hamburger Hundeverordnung viele Rassen, unter
anderem Rottweiler und der Deutsche Schäferhund.
Die vielzitierten zwei Tonnen Beißkraft, die
"Kampfhunde" angeblich auszeichnen, stellen eine
Anekdote dar. Es ist möglich, für verschiedene Tierarten
theoretisch zu berechnen, welchen Druck die Muskelmasse des
Kiefers ausüben kann. In diese Berechnung müßten jedoch
weitaus mehr physikalische und physiologische Parameter
einfließen, so daß eine einzige Zahl (in Tonnen) nicht
glaubhaft ist.
Hinsichtlich der Gefährlichkeit ist auf die Beißhemmung (die
von jedem Hund erlernt werden muß und nicht angeboren ist!),
die Streß- und Frustrationstoleranz sowie das antrainierte
Verhalten von Hunden hinzuweisen. Immer ist es der Mensch, der
maßgeblich das Verhalten seines Hundes formt. Diesem Einfluß
des Halters/Besitzers wird in der neuen Hundeverordnung zu wenig
Aufmerksamkeit geschenkt.
Ad 3. Sachkundennachweis
Die Tierärztekammer hätte es begrüßt, wenn ein genereller
Sachkundenachweis ("Hundeführerschein") für alle
Hundehalter festgelegt worden wäre. Halter, die Hunden kein
artgerechtes und tierschutzgerechtes Leben ermöglichen und Hunde
so halten, daß daraus eine Gefährdung der Öffentlichkeit
entstehen kann, sollten unabhängig von der Hunderasse mit einem
Haltungsverbot belegt werden.
Ad 4. Rassebestimmung
Es gibt keine Gentests zur Rassebestimmung.
Die verschiedenen Hunderassen sind Sammlungen von phänotypisch
(äußerlich) sehr ähnlichen Hunden. Auf die sogenannten
,,Rassestandards" haben sich Menschen geeinigt, indem sie
sich in Vereinen zusammengeschlossen haben, äußerliche Merkmale
für bestimmte Rassen festlegten und bestimmte Linien miteinander
kreuzten.
Es gibt jedoch keine wissenschaftlichen Methoden, durch die ein
Rassehundverein einem individuellen Hundehalter nachweisen
könnte, daß dessen individueller Hund ein Exemplar einer
bestimmten Rasse ist.
Der Rassehundverband kann sich weigern, ein individuelles Tier
aufgrund phänotypischer Merkmale anzuerkennen. Dies ist aber
keine wissenschaftlich abgesicherte Rassebestimmung und der
entsprechende Hundehalter könnte seinen individuellen Hund nach
wie vor als Hund dieser bestimmten Rasse ausgeben.
Ad 5. Tierschutz
Die Tierärztekammer ist äußerst besorgt in der Durchführung
der Hundeverordnung im Benehmen mit dem Tierschutzgesetz (TSchG).
Tierärzte haben schon immer Hunde bei tatsächlicher Gefahr im
Verzuge euthanasiert. Denn Menschenschutz hat Vorrang vor
Tierschutz - aber in den Grenzen, die das Tierschutzgesetz
vorgibt, denn nach §17(1) TschG macht sich strafbar, wer ein
Wirbeltier ohne vernünftigen Grund tötet. Die momentane
Hundeverordnung schafft aufgrund der Rassekataloge Fakten für
die Euthanasie, die unserer Ansicht nach nicht mit dem
Tierschutzgesetz vereinbar sind. Die Gefahrenabwehr ist durchaus
ein vernünftiger Grund, wenn dies für jedes Tier individuell
durch Diagnosestellung bewiesen ist. Es kann nicht sein, daß ein
Hund euthanasiert wird, nur weil er einer bestimmten Rasse
angehört. Hierin sehen wir tatsächlich einen Verstoß gegen das
TschG.
Nach § 16a (2) TschG muß bei der Entscheidung zur Euthanasie
auch bewertet werden, ob und wie weit eine sichere Haltung
möglich wäre, ohne die Bevölkerung zu gefährden.
Die Unterbringung von Tieren durch die öffentliche Hand setzt
das TschG nicht ausser Kraft, insbesondere gilt der § 2 TschG:
wer ein Tier hält, betreut oder zu betreuen hat, muss
Unterbringen bedeutet daher nicht einfach wegschliessen!
Verhaltensauffälligkeiten von zwangsuntergebrachten Tieren
können auf den Verdacht eines Verstosses gegen § 2 TschG
hinweisen.
Ad 6. Maulkorbbefreiung
Das permanente Tragen des Maulkorbes behindert die artgemäße
Kommunikation und das Explorationsverhalten von Hunden erheblich
und kann in seiner Prolongation zu Verhaltensstörungen führen,
die sich in gesteigertem Aggressionsverhalten äußern können.
Ursprünglich sozial und kommunikativ kompetente Hunde können so
zu einer realen Gefahr werden. Daher würden wir es begrüßen,
wenn auch die Hunde der ersten Kategorie von dem Zwang zum
Maulkorb befreit werden, sobald ein entsprechendes Gutachten
vorliegt.
Auch abgegebene und/oder aufgegriffene Hunde aus den
Tierschutzvereinen der Stadt sollten mit bestandenem Wesenstest
an neue Halter vermittelt werden können.
Ad 7. Beurteilung des berechtigten lnteresses
Hundehalter, die einen Hund der ersten Kategorie weiter halten
möchten, müssen ihr "berechtigtes Interesse" zur
Haltung nachweisen. Ein Hamburger Wirtschafts- und Ordnungsamt
hat einer Besitzerin ihr berechtigtes Interesse abgelehnt, mit
der Begründung, daß der Hund erst seit 3 Jahren bei der
Besitzerin lebt und in diesem Zeitraum noch nicht von einer
starken Bindung zwischen Hund und Halterin auszugehen ist.
Bereits innerhalb von wenigen Wochen können Hunde eine starke
Bindung zum Menschen herausgebildet haben und diesen Menschen als
wichtigen (unter Umständen den wichtigsten) Sozialpartner
ansehen. Umgekehrt wird von Wissenschaftlern die Bindung zwischen
Hund und Mensch durchaus auf der gleichen Ebene gesehen wie die
zwischen Menschen. Relevante Literatur benennen wir Ihnen zu
diesem Thema gern.
Ad 8. Übergangs- bzw. Bestandsschutzregelungen für
Hundehalter
Bei Einführung der Bayrischen Hundeverordnung gab es eine
Übergangs- bzw. Bestandsschutzregelung für Hundehalter. Nach
erbrachter Negativbescheinigung mußte so kein Hund euthanasiert
oder enteignet werden.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. med. vet. Barbara Schöning, Präsidentin der
Tierärztekammer
Dr. med. vet. Dagmar Vogel, Ausschuss für Öffentlichkeitsarbeit